39
Gesegnet sei der Schöpfer und Sein Wasser. Gesegnet sei Sein Kommen und Gehen. Sein Vorbeiziehen reinigt die Welt. Möge er die Welt für Sein Volk bewahren.
Fremenitische Wasserzeremonie
Die künstliche Höhle war ein zeitweiliges Lager, kein echter Sietch, sondern nur ein bekannter Rastplatz für Fremen, die durch die Wüste reisten. Sie lag im Gipsbecken und war weit entfernt von den kulturellen Annehmlichkeiten Arrakeens – von den Läden, Restaurants und Raumhäfen. Und weit weg von allen Menschen.
Stilgar hatte den perfekten Platz für Chanis Wasserzeremonie ausfindig gemacht, und auch Jessica gefiel er. Während Alia mit ihren Hochzeitsvorbereitungen begann und zugleich damit beschäftigt war, auf Bronsos neuestes Brandschreiben zu reagieren, hatten Jessica und der Naib sich in die Wüste hinausgestohlen, um wieder einmal unter Fremen zu sein.
Jessica dachte, dass sie sich nach so vielen Jahren unter diesen Menschen eigentlich wie eine Fremde fühlen sollte, wie ein Eindringling, doch stattdessen hatte sie das Gefühl, immer noch zu ihnen zu gehören. Stilgar hatte die richtigen Fremen zusammengerufen und die Zeremonie arrangiert, und Jessica verspürte an diesem Ort ein tiefes Gefühl der Ehrerbietung, eine Art Vertrautheit. Ja, nach dem Rummel um Pauls Begräbnis war es nun so, wie es sein sollte. Es entsprach ihren Vorstellungen weit mehr als die private Gedenkzeremonie, die sie im Sietch Tabr für Paul abgehalten hatte. Jessica war sich sicher, dass Chani es gutgeheißen hätte. Und Alias andere Zeremonie für Chani, die mit gewöhnlichem Wasser vollzogen wurde, war für die wahrhaft Trauernden unbedeutend.
Die wenigen bewohnbaren Grotten, die es noch im Gipsbecken gab, waren einmal Teil eines sehr viel größeren Komplexes gewesen, der von Kynes-dem-Umma, auch bekannt als Pardot Kynes, Vater von Liet und Großvater von Chani, als biologisches Testgebiet benutzt worden war. Bis vor wenigen Jahren war Kynes der Ältere im Imperium kaum bekannt gewesen, doch aufgrund des Einflusses, den er auf Arrakis genommen hatte, sprach man nun überall von ihm.
Pardot hatte die Terraforming-Aktivitäten auf dem Wüstenplaneten in Gang gebracht, und er war ein wahrhafter Visionär gewesen. Vor beinahe einem Jahrhundert hatte der alte Kynes mit seiner Arbeit begonnen. Das Material hatte er sich aus verlassenen imperialen Forschungsstationen zusammengesucht. Er hatte Wissen angewandt, das er bei seiner offiziellen imperialen Ausbildung zum Ökologen erlangt hatte, und Erfahrungen von den vielen rauen Planeten, auf denen er überlebt hatte. Hier in den tiefen Höhlen des Gipsbeckens hatte Pardot eine unterirdische Oase erschaffen, um zu beweisen, dass auf dem Wüstenplaneten ein Garten gedeihen konnte. Doch im Laufe der Jahre hatte die übermäßige Feuchtigkeit die Höhlenwände angegriffen und zu einem Einsturz geführt, der Pardots Oase zerstört und ihn selbst getötet hatte.
Doch nicht seine Träume. Seine Träume waren nie getötet worden.
Treue Anhänger von Kynes' Vision waren hierher zurückgekehrt, um einige Felder mit Saguaro-Kakteen, Süßhülsenbäumen, kleinen Feigenkakteen und sogar zwei wassergierigen Portygul-Orangenbäumen anzupflanzen. Ja, dachte Jessica, ein passender Ort, um Chani auf Fremenart zu ehren. Dies war kein Spektakel für Fremde.
Stilgar hatte in den Jahren, seit er beschlossen hatte, Muad'dib zu folgen, eine Menge über Politik und die menschliche Natur gelernt. Doch jetzt war er hier, um etwas Politikfreies zu tun – für die junge weibliche Angehörige seiner Einheit, die seine Nichte gewesen war und für viele Menschen noch so viel mehr.
Sorgfältig darauf bedacht, keinen Tropfen zu verschütten, leerten Jessica und der Naib die Wasser-Literjons, die er im Laufe mehrerer Wochen heimlich aus Muad'dibs Zitadelle geschmuggelt hatte. Sie gossen die Flüssigkeit in ein großes Gemeinschaftsbecken, das auf einem Felsvorsprung ruhte. Der Höhleneingang war mit Feuchtigkeitssiegeln verschlossen, damit die Männer und Frauen ihre Nasenstopfen und Gesichtsmasken abnehmen konnten. Der Geruch des Wassers in der Luft ließ Jessicas Blut schneller strömen.
Als wäre sie eine Priesterin, wie Alia eine geworden war, wandte Jessica sich zu den hundert versammelten Fremen um. Stilgar stand wie eine Säule neben ihr, ernst und respektvoll. Jessica hatte ihm dabei geholfen, die Auswahl jedes einzelnen Teilnehmers sorgfältig zu überdenken. Es handelte sich um Männer und Frauen aus Sietch Tabr, die mit Paul in den Guerillakampf gegen die Bestie Rabban und die Harkonnens gezogen waren. Obwohl Jahre vergangen waren, kannte Jessica jedes Gesicht und jeden Namen der Anwesenden. Zu ihrer Überraschung war sogar Harah anwesend – Stilgars Frau und Chanis Freundin. Doch vor Alia mussten sie diese Zeremonie geheim halten.
Diese Fremen respektierten Chani als eine Fremen, nicht nur wegen ihrer Verbindung zu Paul. Jessica wusste, dass es sich nicht um religiöse Kriecher oder selbstgefällige Angehörige des Qizarats handelte. Sie vertraten viele Stämme und würden ihre Erinnerungen mitnehmen und in ihrem Volk verbreiten.
Als alle Beobachter schwiegen, als die Stimmen erwartungsvoll verstummt waren, trat Stilgar zurück, und Jessica ergriff das Wort. »Wir haben uns hier wegen Chani versammelt, die geliebte Tochter des Liet, Enkelin von Kynes-dem-Umma und Mutter von Muad'dibs Kindern.«
Ein Murmeln durchlief die Menge wie ein Windhauch bei Sonnenuntergang. Jessica schaute hinab und sah Harahs leuchtende Augen. Ihr ernstes Gesicht bewegte sich nickend auf und ab.
Stilgar berührte den Rand des Beckens und strich mit den Fingern über die Basrelief-Verzierungen. Mit einer schnellen Drehung öffnete er den Verschluss, damit das kostbare Nass verteilt werden konnte. »Das Fleisch gehört dem Einzelnen, aber das Wasser gehört dem Stamm und den Träumen des Stamms. So gibt Chani uns ihr Wasser zurück.«
»›Das Fleisch gehört dem Einzelnen, das Wasser gehört dem Stamm‹«, wiederholten die versammelten Zeugen seinen Satz wie ein Gebet. Hier in der beengten Höhle konnte Jessica die benebelnde Mischung aus feuchten Gerüchen wahrnehmen, die Kombination von Staub, getrocknetem Schweiß und Melange.
Als Stilgar verstummte, fuhr sie fort. »Obwohl die Fremen jeden Tropfen für die grüne Verwandlung von Arrakis getrunken und gesammelt und gestohlen haben, hat dieser Ort im Gipsbecken eine besondere Bedeutung für uns alle. Diese Pflanzen sind Symbole, die uns an die Vision von Chanis Großvater und Vater für den Wüstenplaneten erinnern. Jetzt benutzen wir Chanis Wasser, um ihnen beim Gedeihen zu helfen. Grün ist die Farbe der Trauer, doch hier ist es auch die Farbe der Hoffnung.«
Stilgar schöpfte eine halbe Tasse Wasser aus dem Becken und ging zum nächsten Süßhülsenbaum, dessen warmer, vielfältiger Geruch wie ein Flüstern von den Blättern und der Rinde aufstieg. »Chani war meine Freundin. Sie gehörte zu meiner Fremen-Einheit, war eine Kämpferin, eine segensreiche Gefährtin. Sie war bei mir, als ich einen Jungen und seine Mutter entdeckte, die durch die Wüste irrten. Damals wusste sie es noch nicht, doch sie hatte ihren Vater Liet bereits an die Harkonnens verloren ... und doch hat sie ihre wahre Liebe gefunden.« Er goss das Wasser aus und ließ es in die durstigen Wurzeln der Pflanze sickern. »Die Stärke einer Frau kann grenzenlos sein. Und genauso bleibt der geheiligte Ruh-Geist Chanis, der geliebten Gefährtin Paul Muad'dibs, auf ewig ein Teil des Wüstenplaneten.«
Jessica trug einen zweiten winzigen Wasserbecher zu einem der ums Überleben kämpfenden Portygul-Bäume. Die sechs harten, grünen Früchte, die an den Ästen hingen, würden beim Reifen orange wie die untergehende Sonne werden. »Chani war meine Freundin. Sie war die Mutter meiner Enkelkinder, und sie war die wahre Liebe meines Sohnes.« Zuerst war es Jessica schwergefallen, doch letztlich hatte sie Pauls Fremen-Frau wirklich akzeptiert und ihm sogar gesagt, dass sie Chani ebenfalls liebte. Jetzt holte sie tief Atem. »Selbst als die gesamte Menschheit seinen Namen rief, hat sie Paul daran erinnert, dass er ein Mensch war.«
Stilgar bedeutete Harah, als Nächste zu folgen. Seine Frau, die normalerweise so offen und direkt war, klang nun nervös. Jessica sah die Gefühle, die sie mühsam mit entschlossener Miene unter Kontrolle hielt. »Chani war meine Freundin, eine Fremen-Frau und eine Fremen-Kriegerin. Sie war ...« Harah stockte. »So wie Usul das Fundament der Säule war, so war sie sein Fundament, seine Stütze.«
Die hundert Gäste traten zu einer besonderen Art von Kommunion vor und verteilten in einer gedämpften, ehrerbietigen Zeremonie Schlucke von Chanis Essenz. Kleine Mengen von Chanis Wasser brachten sie zu den Pflanzen, während der Rest ins Gemeinschaftsreservoir gegossen würde.
»Es heißt, dass man Muad'dib niemals finden wird, doch alle Menschen werden ihn finden«, verkündete Stilgar, als der Letzte aus dem Publikum seine halbe Tasse geleert hatte. »Chanis Wasser wird niemals gefunden werden, und doch werden alle Fremen der Stämme sie finden.«
Jessica fügte hinzu: »Sie wollte nicht vergöttert werden. Chani, Tochter des Liet, wird uns auf unsere eigene Art heilig sein. Sie braucht nicht mehr und wir auch nicht.«
Keiner der Fremen hier begriff die gewaltigen Ausmaße von Muad'dibs Imperium oder die Verflechtungen, die seinem Djihad zugrunde lagen, aber sie kannten Chani, und sie verstanden, was diese Zeremonie für ihre Fremen-Identität bedeutete.
Als die ernste Zusammenkunft beendet war, flüsterte Jessica: »Wir haben heute etwas Gutes getan, Stilgar.«
»Ja, und jetzt können wir nach Arrakeen zurückkehren und weitermachen wie bisher, doch ich fühle mich verjüngt. Ich muss Ihnen gestehen, Sayyadina Jessica, dass ich schon lange das Bedürfnis habe, mich aus der Regierung zurückzuziehen, mich den größeren und unschöneren Wirklichkeiten zu entziehen, die ich gesehen habe ... genau wie Muad'dib sich von seinem Platz in der Geschichte zurückgezogen hat, indem er in die Wüste hinausgegangen ist.«
»Manchmal ist es eine mutige Geste, sich zurückziehen.« Jessica erinnerte sich, wie sie Paul in der Hitze des Djihads den Rücken zugekehrt hatte, und dachte daran, dass sie bald nach Caladan zurückkehren würde, um dort über ihr Volk zu herrschen. »Und manchmal ist es mutiger zu bleiben.«
Er beschäftigte sich mit seinem Destillanzug, setzte einen Nasenstopfen ein und wischte sich den Staub vom Mantel. »Ich werde die Regentin Alia weiterhin beraten, und ich werde über die Kinder Muad'dibs wachen. Bei diesen Pflichten werde ich meinem wahren Fremen-Selbst für immer treu bleiben. Kommen Sie, wir müssen nach Arrakeen zurückkehren, bevor Ihre Tochter merkt, dass wir fort sind.«